Die belgische Regierung will allen Einwohnern des Landes kostenlose Jodtabletten anbieten, damit sie sich im Fall eines Kernkraftwerksunfalls besser vor radioaktiver Strahlung schützen können, titelt die Zeit in Ihrer Online-Ausgabe vom 6. März diesen Jahres (Link). Was seitens der belgischen Regierung als pure Maßnahme eines überarbeiteten Notfallplans deklariert wird, hat für viele Bürgereinen einen realen Hintergrund: In Tihange, nördlich von Lüttich gelegen, und Dole, im Norden von Antwerpen, stehen zwei der ältesten Meiler des Kontinents.

Was heißt Altern bei einem Kernkraftwerk und wann ist es wirklich alt?

Zur Beantwortung dieser Frage hat es Sinn, diese in zwei Teile zu zerlegen, so wie man gedanklich auch jedes Kraftwerk in zwei Teile zerlegen kann:

  • einen konventionellen Teil, der thermische Energie (meistens in Form von Dampf) in elektrische Energie wandelt (Dampfturbine)

und

  • einem zweiten Teil, in dem die thermische Energie aus chemischer Energie (durch Verbrennung von fossilen Brennstoffen) oder aus der Bindungsenergie der Kernbestandteile (Umbau der Atomkerne in solche mit geringer Bindungsenergie im Kernkraftwerk) gewonnen wird.

Beide Kraftwerksteile unterliegen der Alterung und bedürfen der Überwachung, Wartung und Reparatur sowie dem Austausch von Komponenten. Das erfordert die Bereitschaft zu fortwährenden Investitionen, um die Anlage in einem betriebstechnisch guten, risikominimierten und zugelassenem Zustand zu halten. Hier sind fossile Kraftwerke gegenüber Kernkraftwerken im Vorteil, da alle Komponenten nach dem Abschalten zugänglich sind.

Bei Kernkraftwerken wird dagegen kontinuierlich das umlaufende Kühlmittel mit radioaktiven Elemente kontaminiert. Der stromerzeugende Teil ist nur zugänglich, wenn dieser mit einem eigenen (Sekundär)Kreislauf getrennt vom (Primär)Kreislauf im Reaktor betrieben wird und der vermittelnde Wärmetauscher keine Undichtigkeiten hat.

Siedewasserreaktoren haben nur einen Kreislauf. In Deutschland ist nur noch ein Letzter dieser Bauart in Grundremmingen (nördlich von Ulm) in Betrieb, Alle anderen noch in Betrieb befindlichen kommerziellen Reaktoren in Deutschland sind Druckwasserreaktoren mit zwei getrennten Kühlmittelkreisläufen. Auch Tihange, Dole und Fessenheim sind Druckwasserreaktoren.

Dies bringt uns zur nächsten Ebene unser Frage:  Wie altert nun der Reaktor im Kernkraftwerk?

Um dies zu beantworten müssen wir uns anschauen, was im Reaktor geschieht und welche Auswirkung das auf die umgebenden Materialien hat. Zunächst zu den ablaufenden Prozessen und dann zu den Materialien.

Bei Kernkraftwerken macht man sich drei Dinge zunutze:

Einmal, dass schwere Elemente instabil sind, d.h. die Atomkerne haben eine Tendenz spontan zu zerfallen.

Zum zweiten sind die Zerfallsprodukte energieärmer (sie haben weniger innere Bindungsenergie) als die Ausgangsprodukte. Die Energiedifferenz macht sich in Form von Bewegungsenergie der Zerfallsprodukte bemerkbar, wie auch in sehr energiereichem „Licht“, weit jenseits der schon nicht mehr sichtbaren UV-Strahlung. Man spricht von Radioaktivität; Henri Becquerel hatte sie 1896 bei Untersuchungen an Uransalzkristallen entdeckt.

Das Dritte und entscheidende ist, das man Atomkerne auch gezielt destabilisieren kann. Die Natur hat die Atomkerne so gebaut, dass sie aus annähernd gleich vielen ungeladenen Neutronen und positiv geladenen Protonen bestehen (Verhältnis ca. 1.0-1.5 : 1).  Das chemische Element ist durch die Protonenzahl eindeutig festgelegt. Die Neutronenzahl kann in enger Bandbreite variieren, man spricht von verschiedenen Isotopen des selben Elements. Es scheint, als ob die Neutronen der Kit sind, die sich abstoßenden Protonen zusammenzuhalten. Aber ganz so ist es nicht: Nicht nur mit zunehmender Schwere, sondern auch mit jedweder Abweichung vom Idealverhältnis werden die Kerne instabil, je größer diese Abweichung, desto wahrscheinlicher zerbricht der Kern. Das ist aber - bildlich gesprochen - die Axt: Will man einen Kern zerschlagen, muss man ihm nur Neutronen hinzufügen - was einfacher ist, als Neutronen zu entfernen.   

Das allseits bekannte und nach dem Planeten Uranus benannte Uran mit 92 Protonen gehört zu diesen schweren Elementen, deren Kerne leicht zu destabilisieren sind. Alle bekannten Isotope des Urans sind radioaktiv. Eine besondere Bedeutung kommt dem Isotop 235 zu (92 Protonen und 143 Neutronen), da diesem Neutronen relativ leicht hinzugefügt werden können und dieses dann beim Zerbrechen neben den Bruchstücken Krypton (36 Protonen) und Barium (56 Protonen), 2 bis 3 Neutronen freisetzt.

Verdichtet man eine genügend große Menge des Uran-235, so dass im Mittel mehr als eines der freigesetzten 2 bis 3 Neutronen das Material nicht verlassen kann, bevor es von anderen Uran-Kernen „eingefangen“ wird, setzt spontan eine lawinenartige Vermehrung von Neutronen und gespalten Kernen ein. In gewisser Weise ähnelt dieser Prozess dem Entzünden eines Feuers, allerdings ist die Vehemenz dieser zwei Vorgänge tatsächlich die aus zwei verschiedenen Welten: Als Daumenwert liefert die Verbrennung von 1 Kilogramm Kraftstoff ca. 10 Kilowattstunden, der „Abbrand von 1 Kilogramm Uran“ setzt die zweimillionenfache Energie frei, wenn auch diese nur zu Teilen thermisch verwertbar ist.   

Diese gewaltigen Energiemengen sind Segen und Fluch zugleich:

Der thermisch verwertbare Teil ist prinzipiell der „Gewünschte“ um Dampf zu erzeugen und eine Dampfturbine anzutreiben. Er ist gleichzeitig aber auch der Teil, der abgeführt werden muss, um eine Überhitzung des Reaktors und ein Zusammenschmelzen des Reaktorinnenlebens zu verhindern. Deswegen sind die Maßnahmen zur schnellen Abschaltung des Reaktors und die Überwachung des Kühlmittelkreislaufes von immenser Bedeutung für die Sicherheit des Reaktorbetriebes. Aber auch, wenn dieser Betrieb professional und reibungslos geführt wird, entstehen zyklisch massivste thermische Belastungen aller involvierten Materialien, insbesondere wenn der Reaktor häufige Leistungswechsel durchführen muss. Dies ist einer der Alterungsmechanismen, die die Lebensdauer eines Reaktors begrenzen.

Der nicht-thermische Anteil besteht u.a. aus großen Spaltprodukten (z.B. Krypton), die ihrerseits wieder größtenteils instabil (=radioaktiv) sind und in weiteren Ketten zerfallen, kleineren Spaltprodukten (z.B. Heliumkernen, auch als Alpha-Strahlen bekannt) und sehr hohen Dichten an Neutronen, die alle mit extremen kinetischen Energien in allen Raumrichtungen emittiert werden.

Was passiert nun mit diesen Spaltprodukten?  Ganz einfach: Sie treffen auf die umgebenden Materialien und dringen in diese ein.

Die sich im Material abspielen Mechanismen sind schon vor Jahrzehnten untersucht worden (u.a. vom Autor dieses Artikels, https://publikationen.bibliothek.kit.edu/270029365/3834359, Seite 9).

Nehmen wir zum Beispiel die emittierte Alpha-Strahlung: Das der Strahlung ausgesetzte Metall der Brennstoffhülle absorbiert die Helium-Kerne nach wenigen Mikrometern (µm) Eindringtiefe und wird somit mit Helium „beladen“. Die kleinen Heliumkerne sitzen nach Abbremsung im Material in den Zwischenräumen der großen Metallatomverbände. Steigt die Beladung weiter an, überschreitet die Heliumkonzentration die Aufnahmefähigkeit des Metalls: Die Heliumatome verdrängen sich gegenseitig und sammeln sich in den Schwächezonen des Materials, nämlich entlang der Korngrenzen des Metallgefüges. Wird diese Beladung weiter erhöht, kommt es wie in einer Sprudelwasserflache bei Druckentlastung zur Zusammenlagerung einzelner Heliumverbände zu mikroskopisch nachweisbaren Blasen entlang der Korngrenzen. Wird die Beladung weiter gesteigert, verbinden sich die einzelnen Blasen und brechen die Korngrenze auf. Wenn im weiteren Verlauf aufgesprengte Korngrenzen aufeinanderstoßen, bilden sich makroskopische Risse im Material.

Es entstehen also Risse im Material, nicht nur durch thermische Belastung, sondern auch durch Alphastrahlen-Absorption.

Diese schädlichen Effekte bleiben keineswegs auf die Brennstabumhüllung beschränkt. Auch die Reaktorwand wird geschädigt. Hierfür sorgt der immense und alle Materialien durchdringende Neutronenfluss. Neutronen erzeugen durch gelegentlichen Stoß an Atomkernen im Reaktorgefäß Defekte im Kristallgitter, die ebenfalls zur Versprödung des Materials führen. Nicht zuletzt werden die der Neutronenstrahlung ausgesetzten Stähle durch Neutroneneinfang selbst radioaktiv und die damit verbundene Umwandlung von Legierungsbestandteilen wirken sich meist negativ auf die Materialeigenschaften aus. Und schließlich  gibt es eine Vielzahl von Reaktionswegen, bei denen ein eingefanges Neutron den destabilisierten Kern dazu treibt ein Alpha-Teilchen zu emittieren. In Folge wird also auch das Reaktorgefäß mit Helium beladen … und es entstehen auch Risse durch Neutronen-Absorption.

Der Reaktorbehälter und sein gesamtes Innenleben versprödet zunehmend: mit der empfangenen, kumulierenden totalen Strahlungsdosis wie auch mit der kumulierenden Zahl der thermischen Zyklen.  

Als Daumenmarke kann man die Lebensdauer eines Reaktors auf 25 Jahre taxieren. Dies ist allerdings nur eine grobe Orientierungsmarke, da die Alterung eines Reaktors von der Betriebsführung, von der Zahl der Betriebsstunden und vielen weiteren Faktoren abhängt. Ein Reaktor mit 40 bis 45 Jahren kann sicherlich als hochbetagt eingestuft werden, es gibt nur wenige Reaktoren, die dieses Alter je erreicht haben. So wie es Rentner gibt, die noch sehr sicher Auto fahren, kann es Reaktoren geben, die trotz fortgeschrittenem kalendarischen Alters kein höheres Risiko darstellen als jüngere Anlagen. Aufschluss geben hier Materialuntersuchungen.

Das Auftreten von Rissen und erst recht das massive Auftreten von Rissen im Material ist wegen der oben beschriebenen Mechanismen nicht nur ein erstzunehmendes Warnsignal, sondern auch eines der letzten vor dem endgültigen Versagen des Materials. Wann eine versprödete Wand bricht, ist faktisch nicht hervorzusagen, kann aber bereits im  nächsten Moment geschehen.

Warum werden dann alte Reaktoren überhaupt weiter betrieben und nicht abgeschaltet?

Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich ein Blick in die Kostenstruktur eines Kernkraftwerks. Wenn Ihr Auto 20.000 € gekostet hat, es nach zehn Jahren noch fährt, und auch wenn sie jährlich 2000 € für Reparaturen und 1500 € für Sprit ausgeben, werden Sie möglicherweise versuchen es einige Jahre weiterzufahren. Wenn Sie aber dieses Auto für 50.000 Euro angeschafft hätten, nur 500 € für Reparaturen und 50 € für Sprit ausgeben müssten, dann würden Sie Ihr Auto gewiss nicht hergeben, jedenfalls nicht freiwillig. Bei Kernkraftwerken haben wir es mit technischen Anlagen zu tun, die in der Erstellung Milliarden verschlingen und zu vergleichsweise vernachlässigbaren Kosten betrieben werden können (unter anderem, weil die wahren Folgekosten von der Allgemeinheit getragen werden müssen).

Fessenheim (Alter: 41 Jahre), Tihange (Alter: 36 Jahre) und Doel (Alter: 36 Jahre) sind abgeschriebene Anlagen und damit Objekte, bei denen jedes Jahr des Weiterbetriebs aus finanzieller Sicht hochgradig attraktiv ist. Jedoch ist es hochgradig verantwortungslos, Reaktoren mit auffälliger Rissbildung im Material, wider allen besseren Wissens, nicht abzuschalten!

Bayern hat bereits mit dem Tschernobyl-Reaktorunfall vor 32 Jahren schlimme Erfahrungen gemacht und die tiefgreifenden Folgen einer nuklearen Havarie - trotz Tausender Kilometer Entfernung - erlebt Die bayrische Staatsregierung sollte die Regierung in Nordrhein-Westfalen unterstützen, die Belgische Regierung und nicht zuletzt auch die EU Kommission unter Druck zu setzen, damit die Reaktoren umgehend abgeschaltet werden.

Und wir sollten uns bewusst sein: Jodtabletten sättigen die Schilddrüse und verhindern die Aufnahme von Jod, so dass kein radioaktives Jod im Körper gespeichert wird; ja, dies ist sicher durchaus effektiv, aber: Jod ist nur eines der vielen, vielen radioaktiven Zerfallsprodukte, die bei einem Unfall die Gesundheit der Bevölkerung  in ganzen Landstrichen bedrohen.

Wie viele Reaktorunfälle brauchen wir nach Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima noch um uns selbst Grenzen zu setzen und diese auch einzuhalten?

Andreas vom Felde