Die vermeintliche Renaissance der Kernkraft und was dahinter steht

Man mag sich die Augen reiben: Landauf, landab ist die Kernkraft wieder in aller Munde. Es geht nicht nur um Verlängerung der Laufzeiten (gerade passé), sondern um „Technologieoffenheit“ und sogar die neue heilbringende Kernfusion (Anm.: Das Gegenteil von der bisher genutzten Kernspaltung, eine noch ergiebigere Energiequelle). Klingt doch alles vernünftig – warum sollten wir funktionsfähige Meiler nicht zur Stromerzeugung nutzen, für Technologien nicht offen sein oder nicht technologisch führend die Welt mit Kernfusion beglücken, ja damit wohl möglich den Klimawandel doch noch aufhalten?

Eine Totgeburt. Sogar eine entgegen besseren Wissens. Wir sollten uns die Fakten ansehen. Und uns fragen, warum es - obwohl man das alles wissen kann - trotzdem diese Diskussion gibt, wem sie nützt und wem sie schadet.

Atommüll-"Entsorgung" ungelöst

Zu den Fakten. Wir haben in Deutschland das „Atom“-Zeitalter hinter uns gelassen, die letzten Meiler sind im April 2023 abgeregelt worden. De facto sitzen wir aber auf abgebrannten Kernbrennstäben und nicht zurückgebauten Kernkraftanalagen mit kontaminierten Reaktormaterialien. Abklingbecken müssen weiterbetreiben werden, Brennelemente zu Castoren „weiterverarbeitet werden“: Kein Ende des Atomzeitalters also, sondern eine „nachhaltige“ Belastung für nachfolgende Generationen. Ein Endlager ist in Deutschland nicht in Sicht. Weltweit sieht es kaum besser aus: Das vielzitierte Endlager Onkalo in Olkiluoto, Finnland, das erste seiner Art, geplant in den späteren Siebzigern, ist nicht vor 2024 im Betrieb und seine Kapazität ist so klein, dass es bestenfalls für die Finnen selber reicht.

Explodierende Bauzeiten und Baukosten verhindern Ausbau

Dieses Versäumnis ignorierend wird stattdessen darauf verwiesen, dass um uns herum neue Kraftwerke gebaut werden, während Deutschland seine bestehenden abschaltet. Das ist sachlich richtig, jedoch unvollständig: Weltweit ist der Meilerpark dermaßen veraltet, dass viele Meiler aus dem Betrieb genommen werden müssen, netto stagniert die Zahl aktiver Meiler bereits seit etlichen Jahren auf gleichem Niveau bei von ca. 440 KKWs (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28688/umfrage/anzahl-der-atomkraftwerke-weltweit/). Ein wesentlicher Grund sind die schmerzhaften Lernerfahrungen aus deren Betrieb, die zu erheblichen höheren Sicherheitsanforderungen geführt haben. Dadurch sind Bauzeiten und Baukosten explodiert: z.B. das britische KKW Hinkley Point C mit 3,2 GW Leistung, geplant in 2013 mit einer Inbetriebnahme 2023, nach neuester Planung 2028, statt 20 Milliarden über 37 Mrd. Kosten (https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Hinkley_Point). Die Liste ähnlicher Projekte ist lang. Es ist deswegen nicht davon auszugehen, dass diese Zahl der Meiler wesentlich zunimmt – also gibt es in Wahrheit keine Renaissance.

Französische Kernkraftwerke unter Druck

Es wird immer wieder das Gerücht verbreitet, wir würden unsere Kernkraftwerke abschalten und dafür zunehmend französischen Atomstrom importieren. Dabei sind die Zahlen von jedermann einsehbar, da öffentlich, und das Gegenteil ist der Fall (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/03/PD23_090_43312.html). Dabei sind die Ursachen für den gegenteiligen Trend sehr bemerkenswert: Die französische Atomstromproduktion leidet nicht nur unter der betriebsbedingten Abschaltung der Meiler wegen ihrer Überalterung, sondern zunehmend wegen fehlender Kühlwasserkapazität. Die fortgesetzte Klimaerwärmung stellt nicht nur Teile der französischen Landwirtschaft wie z.B. die Käseproduktion, sondern auch die Kernkraftwerksbetreiber vor ein Existenzproblem. Der letzte heiße Sommer war exemplarisch, über das Jahr gemittelt blieb die französische Atomstromproduktion 33 Prozent unter ihrem Soll. Der Betriebsausfall pro Reaktor betrug über das Jahr gemittelt 119 Tage! Der Strombedarf musste durch Importe gedeckt werden, was der Hauptfaktor für den Anstieg der Strompreise in Europa im August 2022 war. Die Energiewirtschaft in Frankreich ist mitnichten ein Paradies, im Gegenteil: Der Strom wird massiv subventioniert, um ihn für die Bürger bezahlbar zu machen.

Der Mythos der CO2-Neutralität

Immer wieder wird Kernenergie als CO2-neutral bezeichnet, ein in die Welt gesetzter Mythos, der durch ständige Wiederholung einzementiert ist, aber - sogar leicht ersichtlich - einfach nicht richtig ist. Da ist erstmal die CO2-Hypothek für den Bau der Anlage, man denke allein an die großvolumigen Betonbauten. Dann der Betrieb: Während eine Photovoltaik- oder Windenergieanlage ein Minimum an Überwachung und Wartung bedarf, erfordert ein Kernkraftwerk je nach Größe die Tätigkeit von 500 bis über 1000 Mitarbeitern sowie zahlloser Zuliefer-, Wartungs- und Entsorgungsbetriebe, deren CO2-Emissionen für Transport und Verkehr etc. dem Kernkraftwerk zuzurechnen sind. In die Gesamtbetrachtung einzurechnen sind des Weiteren die Emissionen der gesamten Uranförderkette, vom Bau von Uranerzminen, dem Abbau des uranhaltigen Gesteins, der chemischen Extraktion und Verarbeitung zu Uranoxid, der Aufbereitung bis zu den Kernbrennstäben, bis zum Bau von Endlagern und der generationenlangen Lagerung selbst. Und schlussendlich ist da noch die CO2-Emission beim Rückbau. Die Einzelposten sind je nach den vorgefundenen Bedingungen unterschiedlich zu bewerten und werden teils auch kontrovers diskutiert, im Endergebnis ergibt sich eine große Bandbreite (4-110 g CO2/kWh). Das Gros der Analysen liegt bei 30 bis 70 Gramm CO2 je Kilowattstunde Strom. (https://www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/ist-atomstrom-wirklich-co2-frei). Immerhin ist dieser Wert deutlich niedriger als bei fossiler Stromerzeugung. Es bleibt aber die Frage: Warum teuren Atomstrom erzeugen (> 18 cts/kWh, Tendenz steigend), wenn es viel billiger geht mit Photovoltaik und Windenergie (6 cts bzw. 5 cts. onshore, weiter fallend).

Noch ein Mythos: Die Sache mit der Grundlast

Last but not least wird mantramäßig das Blackout-Szenario bemüht: Wir bräuchten Kernkraft-Grundlastkapazität, wenn die Sonne mal nicht scheint und gleichzeitig der Wind abebbt. Wann ist das der Fall? Auch hier sind Daten für jedermann einsehbar (https://www.energy-charts.de): Dieses Szenario ist ein lokales. Je größer der Radius innerhalb dessen man die Leistung von Photovoltaik und Windenergie addiert, desto mehr gleichen sich Mangel und Überproduktion aus. Deutschlandweit (ja, das erfordert eine besser ausgebaute Netzübertragung!) gibt es bereits selten Energielücken, geschweige denn Blackout-Szenarien. Europaweit herrscht so unterschiedliches Wetter, dass es erzeugungstechnisch keine Stromlücken gibt. Um Stromlücken zu überbrücken sind Kernkraftwerke denkbar ungeeignet, sie lassen sich gar nicht so schnell hoch- und runterfahren. Die Investition in schnellreagierende Kurzfristspeicher und in nationale und zwischenstaatliche Netzinfrastruktur ist parallel zum Ausbau der erneuerbaren Energie der richtige Weg.

Mit der vielzitierten Technologieoffenheit werden immerzu neue Technologien (Wasserstoff, E-Fuels, Kernfusion) in die Diskussion geführt, dabei sollten etablierte Technologien genauso oder mehr im Fokus stehen (PV, Windenergie, Lithium-Ionen und Redox-Speicher, Wärmepumpen), denn diese sind jetzt verfügbar, bereits bewährt und von den Kosten unschlagbar günstig. Ja, selbst Wärmepumpen – mittel- bis langfristig gesehen. Überhaupt ist das Thema Verfügbarkeit von entscheidender Bedeutung, denn wir haben beim Klimawandel inzwischen so viel Zeit vergeudet, dass wir einen zeitlich nur noch kleinen Brückenkopf verteidigen.

Neue Lösungen in Sicht?

Deswegen sind diese neuen Technologien eben nicht die Hoffnungsträger, für die sie verkauft werden. Bei der Kernfusion, hier gleich um die Ecke am Starnberger See im Labormaßstab in der Entwicklung, ist nachgewiesen, dass Sie mit positiver Bilanz betrieben werden kann – nicht mehr und nicht weniger. Für einzelne Atome, die man unter Einsatz von Höchstleistungslasern verschmolzen („fusioniert“) hat, konnte mehr Energie herausgeholt werden als hineingesteckt wurde. Sicherlich ein bemerkenswerter, vielleicht bahnbrechender Erfolg, aber: Unter sehr optimistischen Bedingungen könnte in zehn Jahren eine Pilotanlage entstehen, in zwei Jahrzehnten eine industrietaugliche Anlage ausentwickelt und vielleicht in drei Jahrzehnten eine Anlage auf eine Größe skaliert sein, die heutigen Meilern ebenbürtig ist. Wie viele Jahrzehnte braucht es dann noch bis der bestehende Meilerpark ausgetauscht ist? Auch die Fusion wird nicht frei von CO2-Emissionen sein, auch nicht frei von radioaktiv belastendem Material, aber die Bilanz wäre um ein Vielfaches besser als bei der Kernspaltung in Atomkraftwerken. Es ist durchaus für eine technologieführenden Volkswirtschaft sinnvoll in Fusion zu investieren, unseriös aber ist es hiermit irgendeine Relevanz für die Eindämmung des Klimawandels zu suggerieren.

Gleiches gilt für E-Fuels und Wasserstoff, die lediglich Energiespeicher, jedoch keine Energiequellen sind. Im Gegenteil: Die Wirkungsgradverluste bei der Umwandlung (Synthetisierung bzw. Elektrolyse und Brennstoffzelle) führen dazu, dass bei direkter Nutzung der elektrischen Energie mindestens 4-mal so viel CO2 eingespart werden kann. Das begrenzt den sinnvollen Einsatz dieser Technologien ganz eindeutig auf Anwendungen, in denen die erforderliche Energiedichte anderweitig nicht erreicht werden kann: Gasbefeuerte Industrieprozesse (Glasverarbeitung, Keramikherstellung und Stahlerzeugung) – alles mit Stromheizungen nicht machbar. Die entsprechenden Erzeugungskapazitäten existieren heute nicht mal im Ansatz. Falls diese in zehn Jahre existieren und alle Industriebedarfe abdecken sollten, können wir uns glücklich schätzen. Wenn dann sogar noch weitere Kapazitäten übrig sein sollten, wären für einen Wasserstoffbetrieb Flugzeuge und Schiffe, evtl. auch LKWs die nächsten Abnehmer. Airbus rechnet mit wasserstoffbetriebenen Flugzeugen irgendwann 2060. E-Fuels für PkW-Verbrenner braucht vielleicht Porsche - sonst niemand und sie wird und sollte es nicht geben. Die Tank- oder Tellerdiskussion hatten wir schon durch. E-Fuels und Wasserstoff haben Sinn in den ihnen zugewiesenen Einsatzgebieten, aber ihre Relevanz für die Eindämmung des Klimawandels ist absolut begrenzt.

Wem nützen die Nebelkerzen?

Ganz im Gegensatz dazu sind die bestehenden Technologien von höchster Relevanz für die Eindämmung des Klimawandels und in sträflicher Weise nach wie vor „unterausgenutzt“. Realistischerweise ist anzunehmen, dass die meisten politischen Entscheidungsträger die hier dargelegten Zusammenhänge kennen, sie liegen ja nicht weit unter, sondern eher an der Oberfläche. Warum wird trotzdem dagegen im wahrsten Sinne des Wortes „Staat gemacht“?

Jeder wird hierzu seine eigene Antwort haben. Von „…der Bürger muss vor untragbaren Kosten beschützt werden...“ bis hin zu „…die Tatsachen sind anders…“. Eine andere Antwort ist diese: Wir sind immer noch im „Weiter-So“-Modus gefangen. Der ist bequem, wenn auch nicht mehr ganz schmerzfrei. Die Lobby hält an der verschwenderischen zentralisierten Energieerzeugung fest (abgeschriebene Investitionen, verzerrte aber in ihrem Sinne vorteilhafte Energiepreismodelle, viel zu niedrige CO2-Preise), wogegen die Dezentralisierung an ihren Festen rüttelt. Uns fehlt der Mut zu sagen: Das Weiter-So wird viel teurer und untragbarer werden als das Umgestalten; die Transformation ist nicht umsonst und nicht ohne Schmerzen zu haben. Wir messen dem kurzfristigen Gewinn an politischer Deutungshoheit mehr Wert bei als der nachhaltigen Reparatur unserer Lebensgrundlagen. 

Diese verquere Diskussion nützt den etablierten Nutznießern einer über Jahrzehnte bis auf den heutigen Tag sehr stark subventionierten Fossilwirtschaft und sie schadet uns allen, denn Sie de-fokussiert und behindert somit den zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Könnte man mit einem Federstreich diese Diskussion von all den Falschaussaugen und suggestiven Botschaften befreien, würde die dringend benötigte Investitionen in die Energiewende, der dringende benötigte Reformbedarf in der Genehmigungsbürokratie und vieles mehr uns viel klarer vor Augen stehen und schließlich: Es würde mit mehr Nachdruck an der dringenden, überfälligen Umsetzung gearbeitet!